Es war zu Beginn des vierten Tages, als Allmutter Himmel und Erde gemacht hatte. Die Erde war ohne Pflanzen und hatte noch keinen Regen gesehen. Da stiegen Nebel auf und verteilten sich über die ganze Erde. Sie befeuchteten alles Land, so dass in den nächsten zwei Tagen Pflanzen und Tiere wuchsen und gediehen.
Am sechsten Tag gebar Allmutter ihre Tochter in diese blühende Landschaft und gab ihr einen Teil ihrer selbst als Seele mit. Sie schenkte ihr den Atem des Lebens, des Gebens und Nehmens. So entstand Lilith, die junge Frau.
Um Lilith Schutz und Nahrung zu sichern, damit sie reifen konnte, schuf Allmutter den Garten Yoni im Osten, wo Sonne und Mond aufgehen. In ihm gedieh all das, was Lilith als Grundlage des Lebens brauchte.
Der Garten war schützend umgeben von vier Flüssen: Pischon, die stolz Entspringende, umfloss das Land des Erzes, wo auch Harz, Balsam und Myrrhe vorkommen. Im Gestein ruht der Onyx, der Wunden stillen kann. Im Westen floss Gihon, im Osten Tigra. Der Euphrat schützte im Süden den Garten Yoni als sicherer Übergang.
Allmutter pflanzte Bäume und Kräuter, deren Blüten und Früchte herrlich anzusehen und gut zu essen waren. Und sie sprach zu Lilith: „Viel habe ich Dir in diesem Garten zur Verfügung gestellt. Du kannst über alles verfügen. Nur in der Mitte befinden sich zwei Bäume, deren Früchte Erkenntnis und Leben schenken. Von diesen halte Abstand, bis die Zeit dafür reif ist. Den Zeitpunkt bestimmst Du.“ Sie blickte Lilith liebevoll an.
„Die Früchte dieser Bäume bedeuten Arbeit und Mühsal. Sie fordern von dir viel Kraft. Noch bist du zu jung, dieser Aufgabe zu begegnen. Darum gib dir viel Zeit und mache erst einmal all die Erfahrungen, die Dir Freude und Begeisterung schenken. Träume und lache, tanze und singe. Werde groß, stolz und erwachsen – eben meine Tochter von meinem Blut und meinem Herzen.“
Dann zeigte Allmutter Lilith den Garten, lehrte sie, ihn zu hegen und zu pflegen, ihn zu bewahren und zu nutzen. Und Lilith begann den Tanz des Lebens.
Die Zeit verging und Lilith reifte zu Eva heran. Da fühlte Allmutter tief in sich hinein und sprach: „Es ist nicht gut, das Eva allein ist. Ich will ihr Töchter geben, das Leben zu entfalten.“ Und sie segnete Evas Leib, Ihresgleichen zu empfangen. Der Garten füllte sich mit heiterem Leben und Gesang. Die Frauen reiften heran, pflegten ihr Land und behüteten ihre Tiere. Fröhliches Gelächter erschallte im strahlenden Sonnenschein. Tiefe Ruhe entfaltete sich im Schutz des Mond. Das Leben zog Tag für Tag ins Land und gedieh prächtig.
Allmutter erfreute sich an dieser Harmonie des Seins, tauchte ein in die Gefühle, entfaltete die Kraft und bewegte sich durch Yonis Gefilde.
„Nun brauchen wir Vielfalt, denn das Gleiche wiederholt sich Tag für Tag. Eva und ihre Töchter brauchen Abwechslung, sonst können sie nicht reifen, nichts erfahren, nicht über sich hinauswachsen. So ist das Leben einseitig. Ich will ihnen einen Gefährten zur Seite stellen, auf dass das Leben eine zweite Seite bekommt.“
Sie ließ Eva einschlafen und segnete eines ihrer Eier auf eine neue Art. Allmutter ließ es heranreifen und erschuf damit einen Mann, den sie Eva zur Seite stellte.
„Dies ist Adam. Er sei dein Gefährte, deine Hilfe in der Heimat und dein Bote in der Ferne.“
Eva erkannte in Adam ihr Blut und ihr Leben. Sie erkannte ebenso, dass er die Frucht ihrer Lebenskraft und mit einer Vielzahl ihrer Gaben beschenkt war. So umfing sie ihn mit Liebe. Von nun an konnten Eva und alle ihre Töchter zu jedem Zeitpunkt Leben schenken.
„Nun, Eva, seid ihr gerüstet, ein eigenes Leben auf der Erde zu führen, in dem ihr viel lernen und erfahren könnt, um all dieses Wissen für mich und eure Nachkommen zu entwickeln. Um diesem neuen Wissen Platz zu machen, wird altes Wissen im Nebel der Zeit versinken. Doch es verspricht uns allen Vielfalt und Lebendigkeit. Wann immer du willst, kannst du nun vom Baum der Erkenntnis und des Lebens essen. Es ist deine Entscheidung.“
Eva ging mit Adam durch den Garten, um zu ihrer inneren Haltung zu finden. Auch suchte sie Übereinstimmung mit Adam und ihren Töchtern und Söhnen. Im Vertrauen auf die Güte ihrer Allmutter setzten sie sich in einen Kreis und fassten sich an den Händen. Dann griffen sie zu den zuvor gesammelten Äpfeln und Früchten und bissen hinein.
Im selben Moment öffneten sich ihre Augen und Ohren. Sie vernahmen zusätzliche Musik und erkannten ein Meer an gleißenden Farben und Formen, die ihnen bisher vorborgen geblieben waren. Die Umgebung veränderte ihr Aussehen, so dass eine Fülle neuer Eindrücke auf sie einströmte.
Als sie hochschauten, sahen sie, dass Allmutter lächelnd über ihnen schwebte: „Nun, meine Kinder, seid ihr im irdischen Leben angekommen. Ich hoffe für euch, dass ihr ein abwechslungsreiches und liebevolles Leben führen könnt, ganz nach eurem Wunsch und Willen. Wann immer ihr Hilfe braucht, ruft mich herbei. Wenn es eurem Lebensplan entspricht, werde ich euch zur Seite stehen. Dieser Plan des Lebens ist der, für den ihr euch selbst entschieden habt; bedenkt das immer. Und innerhalb dieses Planes habt ihr die Kraft, das Leben zu jedem Zeitpunkt in ein anderes zu verwandeln. Ruft mich und ich stehe euch bei.
Nun aber erhebt euch und geht auf dieses neue Leben zu. Du, Eva, werde nun zu Schechina, der weisen Alten, denn deine Töchter sind der Lilith-Zeit entwachsen und können ihr Eva-Dasein beginnen. Hüte deine Familie, heile die Kranken und stütze die Gruppe. Du in deiner weisen Erfahrung bist das Rückgrat eures irdischen Lebens. An der Schwelle zwischen Tag und Traum werden wir uns immer besonders nahe sein.“
Gisa — Anmerkung: In diesen Texten ist „die Sonne“ weiblich und „der Mond“ männlich. Ich gehe davon aus, dass diese universellen Symbole auch von der Genesis her so zu verstehen sind. Die uns bekannten ursprünglichen Glaubenskonzepte sahen im Begleiter der Göttin einen Fruchtbarkeitsgott, dem der Mond zugeordnet wurde. Nur in der deutschen Sprache (europäischer Raum) ist dieses Genus-Zuordnung erhalten geblieben. Es ist auch der europäisch-geographische Raum, in dem die Kirche als letztes mit Gewalt den Umstrukturierungsversuch unternommen hat. Die Muttergottheit war noch lange parallel zum christilichen Weltbild von der Bevölkerung akzeptiert. Sie wurde nur anders genannt, um einer juristischen Verfolgung zu entgehen: Mutter Maria.