Gisa, 5. November 2020
Du stehst zwischen vielen alten Eichenbäumen, die tief und fest im Untergrund verwurzelt sind und atmest tief ein und aus.
Die Luft ist frisch und würzig. Der Himmel ist blau, kleine Schäfchenwolken tanzen über ihn hinweg, die Sonne geht bald unter. Blaß silbern steht bereits die Mondsichel am Firmament, bereit dem nächtlichen Wanderer den Weg zu bescheinen.
Doch noch ist es hell, die Welt leuchtet in kräftigen Farben. Die in voller Blüte stehenden Blumen verbreiten einen berauschenden Duft. Das frische Grün der Bäume breitet sich über dir aus wie ein behütendes Dach. Bezaubert stehst du da.
Jede der Eichen, die um dich herumstehen, sieht anders aus. Du hast den Eindruck, als habe eine jede ein eigenes Gesicht, ein eigenes Aussehen, einen eigenen Charakter.
Und während du in der Betrachtung der ehrwürdigen alten Bäume versunken dastehst, fühlst du, wie deine Füße zu Wurzeln werden, sich ebenfalls fest im warmen Erdreich verankern und mit jedem deiner Atemzüge tiefer und tiefer vordringen in den Boden. Du spürst, wie auch du zu einer kleinen Eiche wirst.
Indem du nun auf diesem magischen Wege in eine neue Welt Einlaß bekommen hast, entdeckst Du, daß tatsächlich all die umgebenden Bäume Wesen sind, jedes auf seine Art. Und du hörst eine Stimme:
„Eichen sind geduldige Wesen. Ein bißchen gedrungen, gewiß, aber fest und sicher im Erdreich verwachsen. Wir Eichen lieben den Platz, an dem wir stehen. Wir haben ihn uns ganz bewußt und gezielt ausgewählt. Unsere Samen sind solange durch die Erde gerollt, bis wir diesen unseren Platz gefunden haben. Das ist in deiner Vorstellung schon Jahrtausende her. Und nun stehen wir hier und begrüßen dich!“
Über jedes Baumgesicht gleitet ein begütigendes Lächeln, während die Blätter hoch oben streichelnd rauschen. Es ist die Eiche vorne links, die gesprochen hat und jetzt weiter ihr Wort an dich richtet:
„Wir haben mit unseren Stämmen eine Burg errichtet, unsere Heimat. Mit unseren Äste haben wir ein Dach gebildet und mit unseren Wurzeln einen festen Boden. So trotzen wir Wind und Wetter. Hier in unserem Heim bist Du sicher und geborgen!“
Die Eiche lächelt dich an. Einer der großen Äste scheint sich zu dir hin zu bewegen und dich in den Arm zu nehmen, während gleichzeitig der Baum fast unbewegt auf seinem Platz steht.
Da fällt dir auf, daß sich schillernd grün und schemenhaft wirkend eine stattliche schöne Frau aus dem Baum gelöst hat. Die Schemen werden immer konkreter, erhalten immer mehr stabile Form, während sie auf dich zukommt. Ihren Mund umspielt ein strahlendes, wissendes Lächeln:
“Du wunderst Dich? Wir sind Wesen wie Du. Unser Baum gibt uns Standort und Sicherheit, in die wir uns jederzeit zurückziehen können. Das ganze Reich der Pflanzen ist magisch und verbunden mit allen anderen Reichen: den Tieren, den Mineralien, dem des Geistes und der Gefühle.
Jedes können wir besuchen, von jedem können wir lernen, wir sind alle ein Reich, ein viel größeres Ganzes, dank der Kraft von Mutter Erde, von Gea, der Hüterin des Heimes.
Nun löse du dich aus deinem Stamm, gib ihm Ruhe zu wachsen und zu gedeihen, während ich Dir die Welt zeige! Ich heiße übrigens Freya.“
Die Frau reicht dir die Hand – und siehe da, es ist ganz leicht, einen Schritt vorzutreten, dich aus dem Bäumchen zu lösen, das du geworden bist. Sie legt den Arm um Dich und wendet sich mit dir zusammen um. Dann schreitet ihr durch die Stämme hindurch auf die Felder zu, die euren Hain umgeben.
Vor dir liegt eine wunderbare Landschaft:
Felder und Wiesen in sattem Grün, in leuchtenden Farben liegen vor dir. Am Horizont reicht eine alte solide Burg mit ihren Türmen in dem Himmel. Weiter vorne weiden Kühe auf einem Anger. Vögel fliegen im warmen Maiwind, der die Blumen und Blüten bestreicht. Schillernde Schmetterlinge taumeln durch die saftigen Gräser.
Die Erde dampft in ihrem Hunger nach Wachstum und Entwicklung.
Freya beobachtet wach und aufmerksam dein Staunen: „Es ist schön, der Erde beim Wachsen zuzuschauen, nicht wahr? Wenn du genau hinhörst, kannst Du jeden einzelnen Halm, jedes Korn, jedes Blatt und jede Blüte wachsen hören! Hör genau hin:
Aoum – das ist der Ton der Schöpfung, der allem und jedem Harmonie und Schönheit verleiht. Aoum – die Schwingung von Mutter Gea, der Ton der Schöpfung. Aoum….“
Tatsächlich, auch du kannst es hören: „Aoum…“ intonieren sie alle. Alles wird getragen durch diesen einen Ton, der alle anderen Töne in sich einschließt: „Aoum…“
„Aoum…“ das ist die Fülle allen Seins, die Fähigkeit alles zu erreichen. Es ist die Sicherheit der Wurzeln und die Garantie des Lebens. „Auom…“ schwingt durch die Luft und durch die Erde in satten Farben und alles erfüllenden Eindrücken.
„Komm,“ sagt Freya, laß uns weitergehen, „wir sind zum Essen geladen. Alles wartet schon auf dich.“
Mit festem Schritt wandert ihr in Richtung auf die alte Burg, die ihr kurz darauf auch erreicht. Als ihr den Burghof betretet, sich schon alle versammelt. Du erkennst ganz unterschiedliche Gäste. Bei näherem Hinsehen scheint der Eine in korallenrotem Wams wie eine Tulpe auszusehen, eine Frau in leuchtend goldgelbem Kleid wie eine Narzisse.
Aus der Mitte löst sich eine Frau in schillernd grüner Robe und kommt auf dich zu: „Ich, Aralia, bin heute die Gastgeberin, Dir zu Ehren! Alle haben sich versammelt, die wir die Geister der Natur sind. Du kennst uns aus euren Sagen und Mythen als Alben, als Elfen, als Devas. Wir schützen und behüten die Welt, geben ihr Standfestigkeit, Geduld, wir nähren sie. Wir geben ihr die aktive formende Kraft. Wir tun dies mit der Kraft von Gea, Mutter Erde.
Doch nun laß uns zum Essen gehen.“ Sie wendet sich um, während alle Augen auf dich uns sie gerichtet sind. Nun schreitest du von Aralia und Freya begleitet die Treppe um großen Saal hinauf.
Vor euch breitet sich eine endlos lang erscheinende Tafel aus, mit allen Genüssen, die du dir vorstellen kannst. Jedes Gericht scheint mit jeder Feinheit, mit jedem Kunstgriff kulinarischen Wissens zubereitet. Der Duft der edelsten Gewürze umspielt deine Nase, berührt deinen Gaumen und entfacht in dir die Lust zu speisen.
Ihr laßt euch nieder und wie von Zauberhand stehen vor jedem die Speisen, die ihm gerade in diesem Moment besonders begehrenswert erscheinen. In künstlerisch perfekter Form präsentiert sich jede Vorspeise, jedes Hauptgericht, jede Nachspeise, jeder Wein, jedes Getränk – gereicht durch hilfreiche Geister, die die Tafel umschwirren, um jedem die Wünsche von den Augen abzulesen.
Du genießt diese nie enden wollende Fülle leiblicher Genüsse, während wunderbare Musik dein Ohr erreicht. Sanft berührt dich die Hand von Aralia: „Hör genau hin, Gea spricht…“
Und da bemerkst du es: die Musik bildet sich zu Tönen und Worten:
„Wir sind der Schlüssel unserer tiefsten Quellen. Wir sind die Geduld und die Standfestigkeit. Wir sind die Manifestierung des schöpfenden Gedankens.
So nehmen wir denn unsere Gaben an, so wie wir sind, in der Vervollkommnung unserer Talente.“
Du spürst, wie diese Worte zu deinen eigenen werden: „Ich nehme mich an, so wie ich bin. Ich gebe dem Sein Qualität. Ich bestelle den Boden und konzentriere die Kräfte.
Ich nutze meinen Sinn für Proportion und Gestalt, um das Dasein zu formen und ihm Ausdruck zu verleihen.
Beharrlich und beständig nutze ich meine Macht und meine Kräfte – ich setze sie auf meine Weise flexibel ein. Und ich empfinde dabei eine tiefe, stille Freude.“
Und dann stimmst du in den Ton ein, der nun alles und alle durchdringt: „Aoum … Aoum … Aoum …“ Alles hat sich erhoben und tanzt nun die Schritte des Tanzes der Fruchtbarkeit:
„Aoum … Aoum … Aoum …“
Ich wurzele fest in der Erde.
Hier wachse und gedeihe ich.
Ich lasse meine Wurzeln tief in den Boden reichen.
Ich verankere die Entwicklung.
Ich bin standfest und ausdauernd.
Ich bin dies für mich und für die anderen.
Ich finde so zu den Quellen meines Seins.
Ich nehme mich an, so wie ich bin.
Ich bin immer gut.
Ich habe Vertrauen in meine Fähigkeiten.
Ich nutze meine Talente.
Ich bin praktisch veranlagt.
Ich kann immer in Ruhe und Gelassenheit dem Leben begegnen.
Ich habe einen starken Willen und Ausdauer.
Ich erlebe Freude und habe Humor.
Ich weiß die angenehmen Seiten des Lebens zu genießen.
Ich bin sinnlich und besinnlich.
Ich weiß abzuwägen und zu entscheiden.
Ich lebe in der Mitte meiner selbst.
Ich bin immer gut genug.
Ich bin auf dem Wege zur Vollkommenheit.
Ich starte aus einem immer sicheren Fundament.
Ich wurzle, ernähre und sichere das Leben.
Ich weiß um Schönheit und Maß.
Ich schätze Werte und bewahre sie.
Ich bin ein treuer Freund und Helfer.
Durch mich blühen Freundschaft und Festigkeit.
Ich kann dem Gedanken Form, Ausdruck und Farbe geben.
Ich bin die Beharrlichkeit und Leistungsfähigkeit.
Ich bin mein eigenes Maß.
Ich bin immer gut genug.
Ich nehme mich an,
so wie ich war,
so wie ich jetzt bin
und so wie ich sein will.
Ich lebe in Harmonie, Liebe und Frieden
– verbunden mit Himmel und Erde.