Jenseits des Horizontes

Inge lag auf einer Liege im Vorraum zum Operationssaal. Es sollte eine Zyste in der Nähe ihrer Schilddrüse entfernt werden; eigentlich ein kleiner Eingriff. So versank sie vertrauensvoll in der Narkose, entspannt auf dem Rücken liegend.

Inge wurde sich ihrer selbst wieder bewusst, als sie die Augen öffnete und unter sich einen Menschen liegen sah. Sie guckte genauer hin – das war sie selbst! Sie sah sich auf dem Operationstisch liegen, während mehrere Menschen um sie herumstanden und eifrig um ihren Körper bemüht waren. Einer der Männer gab ihrem Gesicht immer wieder einen Klaps und rief: „Frau Iven, Sie müssen atmen!“ – Die Leuten wirkten hektisch: „Frau Iven, Sie müssen ATMEN!“

Inge überlegte, was sie da sah. Ja, natürlich, das war sie. Oh ja, sie war auch diejenige, die über diesem, nein, ihrem Körper schwebte. Sie empfand alles ganz gelassen. Ohne jede Aufregung schaute sie den Menschen zu, wie diese versuchten, sie wiederzubeleben. Dann schoss ihr ein Gedanke durch den Sinn: ‚Wenn ich das nicht will, stehen die Jungs da unten auf verlorenem Posten.‘ Sie lächelte.

Der Vorgang begann sie zu langweilen. Aber etwas anderes weckte ihr Interesse. Da sie schließlich eine wissenschaftliche Ausbildung hatte, wollte sie dieses Phänomen irgendwie überprüfen. Wenn es nun kein Traum, keine Phantasie war, dann musste es doch eine Möglichkeit geben, hier irgendetwas dingfest zu machen – falls sie denn doch wieder Lust hätte zu atmen.

Sie blickte sich um. Der Raum war relativ klein. An der Seite befand sich eine Tür, eine kleine, die aussah wie ein Notausgang. Auf diese schwebte sie zu und streckte die gedankliche Hand aus, um sie zu öffnen. Das jedoch ging nicht, denn sie konnte die Klinke nicht anfassen. Vielmehr griff sie durch das Metall hindurch. Sie versuchte es mehrmals; immer wieder. Dann musste sie lachen. Wenn es möglich war, durch die Klinke hindurchzugreifen, dann konnte eine Wand kein unüberwindliches Hindernis darstellen. Vorsichtig reichte sie mit der Hand durch die gemauerten Steine. Es klappte sofort; ihr Körper floss der Hand hinterher und sie befand sich in einem weiteren Raum. Hier lagen irgendwelche Vorräte. Uninteressant. Also gleich durch die nächste Wand. Nun befand sie sich in einem Flur. Diesem folgte sie, bis sie die Station fand, auf der sie vor der Operation gelegen hatte.

Nun ging sie auf Erkundungstour. Sie begab sich in alle Räume, die sie fand, und merkte sich, was sie dort antraf. Nachdem sie jedes Zimmer genau angeschaut hatte, überlegte sie, dass sie nun wirklich alles erkundet hatte, was vielleicht in einer unbestimmten Zukunft noch einmal von Bedeutung sein könnte. Es begann sie zu langweilen und sie wandte sich um.

Von einem Moment zum anderen befand sie sich in einem ihr restlos unbekannten Bereich, in dem sie Dunkelheit wahrnahm. Es wirkte anheimelnd und angenehm warm, nur erkennen konnte sie nichts. Es war wie beim Einschlafen unter einer molligen Decke. Als ob sympathische Wärme über sie hinweg strich, während der Geist sich vollkommen entspannte.

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