Auszug aus „Wiederkehr der Göttin“, Monica Sjöö, Barbar Mor
Die Religion der großen kosmischen Mutter und ihre Vertreibung durch den Vatergott, Labyrinth-Verlag
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Die Mutter der wilden Tiere und der Tanz

Die religiösen Riten der Frauen waren nicht zu trennen von Kunst, Magie, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten. Das Medium der Kunst gab den Kollektiven die Kraft, sich in einer religiösen und wirtschaftlichen Gemeinschaft zu organisieren. Kunst war das Werkzeug, mit dem die Verbindung hergestellt wurde, die Offenbarung in der Vision, in der sich die Erfahrung eines einzigen lebenspendenden Prinzips ausdrückt, die in der unveränderten anderen Welt der unterirdischen Höhlen erhalten geblieben ist – jener Stätte, an der ewige Dunkelheit herrscht und Zeit räumlichen Charakter annimmt – wider- hallend und statisch.

Die Große Mutter war auch
die Mutter der wilden Tiere.
 

Im tiefsten Inneren und an den uterusähnlichen Wänden von Kulthöhlen finden sich magische Darstellungen der Brüste der Großen Mutter. Sie war selbst ein Tier; in den meisten der frühen Darstellungen trägt die Göttin eine Tiermaske. (In den Religionen des alten China ebenso wie in heidnischen westlichen Religionen stellte das sich wandelnde Tier das weibliche Prinzip dar, es war die Energie der Metamorphose und damit der Evolution.) Die Göttin behielt ihre verschiedenen Tiergestalten über Tausende von Jahren, zum Beispiel die der Kuh, der Eule, des Geiers, des Schweins, des Wildpferds, der Löwin, der Krähe, des Kranichs, des Schakals, der hermaphroditischen Schnecke, der Schlange, des Schmetterlings, der Raupe.

Das Verhältnis der frühen Menschheit zu den Tieren war totemistisch. Totem bedeutet »durch die Mutter miteinander verwandt«. Die Zusammengehörigkeit der Blutsverwandten eines Clans wurde durch eine bestimmte Pflanze oder ein Tier bekräftigt. Durch das Totem wurde das Leben der Menschengruppe untrennbar von der Natur. Es hat die Bedeutung eines heiligen Sakraments: Menschen nehmen das Nicht-Menschliche in sich auf, den kosmischen Strom der Formen. Der verborgene Geist lebt in und durch die Vielfalt der pflanzlichen und tierischen Gestalten, die die Göttin nach Ihrem Willen annehmen kann. Das bedeutet, daß jeder Baum und jedes wilde Tier symbolisch bzw. potentiell die Göttin verkörpern kann und daß ihnen deshalb mit Magie und Ehrfurcht zu begegnen ist.

Einzelne Mitglieder einer Spezies sterben, die Gestalt der Gruppe aber bleibt, sie ist ewig, in ihr hat die Göttin Gestalt angenommen. Dies ist die früheste Vorstellung von Wiederfleischwerdung.

Der Animismus sogenannter »primitiver« Völker ist als »kindisch« bezeichnet worden. Tatsächlich aber ist der Animismus eine tiefgründige intuitive Erkenntnis der evolutionären Beziehung zwischen allen Formen als Äußerung des ursprünglich Einen. Wenn das Überleben des Menschen von solcher sensiblen Beziehung zu seiner Umwelt abhängt, ist diese Auffassung keineswegs kindisch, sondern überlebenswichtig. (Sie ist es noch heute, denn wenn wir nicht wieder eine ehrfurchtvolle Beziehung zur Natur herstellen, wird die Menschheit nicht überleben.) Nach frühen Glaubensvorstellungen darf kein Tier gegen seinen Willen getötet werden. Wenn ein Mitglied einer Spezies erschlagen wird, ist das ursprünglich Eine verletzt. Deshalb müssen die Menschen vor der Jagd zum Geist des Tieres beten und fasten, nicht nur damit er ihnen vergibt, sondern damit er ihnen seine Zustimmung gibt. Das gejagte Tier wird vom Jäger als sich selbst hergebend betrachtet, sein Fleisch soll die Menschen ernähren, während sein Geist zur Gruppen-Form zurückkehrt. Harmonie mit dem toten Tier muß wiederhergestellt werden, da seine Seele in der Vielzahl der Lebenden und der Toten fortdauert.

G00095, Kuh, Lascaux_1000a

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