Dornröschen

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Ziffern und Zahlen 
In den Fußnoten finden sich die Be→Deutungen der erzählten Geschichte der Gebrüder Grimm

 Rosenspirale

Vor Zeiten war ein König und eine Königin, die sprachen jeden Tag ‚ach, wenn wir doch ein Kind hätten!‘ und kriegten immer keins[1]. Da trug sich zu, als die Königin einmal im Bade saß, daß ein Frosch aus dem Wasser ans Land kroch und zu ihr sprach, ‚dein Wunsch wird erfüllt werden, ehe ein Jahr vergeht, wirst du eine Tochter zur Welt bringen.‘ Was der Frosch[2] gesagt hatte, das geschah, und die Königin gebar ein Mädchen, das war so schön, daß der König vor Freude sich nicht zu lassen wußte und ein großes Fest anstellte. Er ladete nicht blos seine Verwandte, Freunde und Bekannte, sondern auch die weisen Frauen dazu ein, damit sie dem Kind hold und gewogen wären. Es waren ihrer dreizehn in seinem Reiche, weil er aber nur zwölf goldene Teller hatte, von welchen sie essen sollten, so mußte eine von ihnen daheim bleiben[3]. Das Fest ward mit aller Pracht gefeiert, und als es zu Ende war, beschenkten die weisen Frauen das Kind mit ihren Wundergaben: die eine mit Tugend, die andere mit Schönheit, die dritte mit Reichthum, und so mit allem, was auf der Welt zu wünschen ist. Als elfe ihre Sprüche eben gethan hatten, trat plötzlich die dreizehnte herein. Sie wollte sich dafür rächen daß sie nicht eingeladen war, und ohne jemand zu grüßen oder nur anzusehen, rief sie mit lauter Stimme ‚die Königstochter soll sich in ihrem fünfzehnten Jahr an einer Spindel[4] stechen und todt hinfallen.‘ Und ohne ein Wort weiter zu sprechen kehrte sie sich um und verließ den Saal. Alle waren erschrocken, da trat die zwölfte hervor, die ihren Wunsch noch übrig hatte und weil sie den bösen Spruch nicht aufheben, sondern nur ihn mildern konnte, so sagte sie ‚es soll aber kein Tod sein, sondern ein hundertjähriger[5] tiefer Schlaf, in welchen die Königstochter fällt.‘ Der König, der sein liebes Kind vor dem Unglück gern bewahren wollte, ließ den Befehl ausgehen, daß alle Spindeln im ganzen Königreiche sollten verbrannt werden. An dem Mädchen aber wurden die Gaben der weisen Frauen sämmtlich erfüllt, denn es war so schön, sittsam, freundlich und verständig, daß es jedermann, der es ansah, lieb haben mußte[6]. Es geschah, daß an dem Tage, wo es gerade fünfzehn Jahr alt ward, der König und die Königin nicht zu Haus waren, und das Mädchen ganz allein im Schloß zurückblieb. Da gieng es aller Orten herum, besah Stuben und Kammern, wie es Lust hatte, und kam endlich auch an einen alten Thurm[7]. Es stieg die enge Wendeltreppe hinauf, und gelangte zu einer kleinen Thüre. In dem Schloß steckte ein verrosteter Schlüssel, und als es umdrehte, sprang die Thüre auf, und saß da in einem kleinen Stübchen eine alte Frau mit einer Spindel und spann emsig ihren Flachs[8]. ‚Guten Tag, du altes Mütterchen,‘ sprach die Königstochter, ‚was machst du da?‘ ‚Ich spinne,‘ sagte die Alte und nickte mit dem Kopf. ‚Was ist das für ein Ding, das so lustig herumspringt?‘ sprach das Mädchen, nahm die Spindel und wollte auch spinnen. Kaum hatte sie aber die Spindel angerührt, so gieng der Zauberspruch in Erfüllung, und sie stach sich damit, in den Finger[9].

In dem Augenblick aber, wo sie den Stich empfand, fiel sie auf das Bett nieder, das da stand, und lag in einem tiefen Schlaf[10]. Und dieser Schlaf verbreitete sich über das ganze Schloß[11]: der König und die Königin, die eben heim gekommen waren und in den Saal getreten waren, fiengen an einzuschlafen, und der ganze Hofstaat mit ihnen. Da schliefen auch die Pferde[12] im Stall, die Hunde im Hofe, die Tauben[13] auf dem Dache, die Fliegen an der Wand, ja, das Feuer[14], das auf dem Herde flackerte, ward still und schlief ein, und der Braten hörte auf zu brutzeln, und der Koch, der den Küchenjungen, weil er etwas versehen hatte, in den Haaren ziehen wollte, ließ ihn los und schlief. Und der Wind[15] legte sich, und auf den Bäumen vor dem Schloß regte sich kein Blättchen mehr.

Rings um das Schloß aber begann eine Dornenhecke[16] zu wachsen, die jedes Jahr höher ward, und endlich das ganze Schloß umzog, und darüber hinaus wuchs, daß gar nichts mehr davon zu sehen war, selbst nicht die Fahne auf dem Dach. Es gieng aber die Sage in dem Land von dem schönen schlafenden Dornröschen, denn so ward die Königstochter genannt, also daß von Zeit zu Zeit Königssöhne kamen und durch die Hecke in das Schloß dringen wollten. Es war ihnen aber nicht möglich, denn die Dornen[17], als hätten sie Hände, hielten fest zusammen, und die Jünglinge blieben darin hängen, konnten sich nicht wieder los machen und starben eines jämmerlichen Todes[18]. Nach langen langen Jahren kam wieder ein mal ein Königssohn in das Land, und hörte wie ein alter Mann von der Dornhecke erzählte, es sollte ein Schloß dahinter stehen, in welchem eine wunderschöne Königstochter, Dornröschen genannt, schon seit hundert Jahren schliefe, und mit ihr schliefe der König und die Königin und der ganze Hofstaat. Er wußte auch von seinem Großvater daß schon viele Königssöhne gekommen wären und versucht hätten durch die Dornenhecke zu dringen, aber sie wären darin hängen geblieben und eines traurigen Todes gestorben. Da sprach der Jüngling ‚ich fürchte mich nicht, ich will hinaus und das schöne Dornröschen sehen.‘ Der gute Alte mochte ihm abrathen, wie er wollte, er hörte nicht auf seine Worte.[19]

Nun waren aber gerade die hundert Jahre verflossen, und der Tag war gekommen, wo Dornröschen wieder erwachen sollte. Als der Königssohn sich der Dornenhecke näherte, waren es lauter große schöne Blumen, die thaten sich von selbst auseinander und ließen ihn unbeschädigt hindurch, und hinter ihm thaten sie sich wieder als eine Hecke zusammen. Im Schloßhof sah er die Pferde und scheckigen Jagdhunde liegen und schlafen, auf dem Dache saßen die Tauben und hatten das Köpfchen unter den Flügel gesteckt. Und als er ins Haus kam, schliefen die Fliegen an der Wand, der Koch in der Küche hielt noch die Hand, als wollte er den Jungen anpacken, und die Magd saß vor dem schwarzen Huhn[20], das sollte gerupft werden. Da gieng er weiter, und sah im Saale den ganzen Hofstaat liegen und schlafen, und oben bei dem Throne lag der König und die Königin. Da gieng er noch weiter, und alles war so still, daß einer seinen Athem hören konnte, und endlich kam er zu dem Thurm und öffnete die Thüre zu der kleinen Stube, in welcher Dornröschen schlief. Da lag es und war so schön, daß er die Augen nicht abwenden konnte, und er bückte sich und gab ihm einen Kuß. Wie er es mit dem Kuß berührt hatte, schlug Dornröschen die Augen auf, erwachte, und blickte ihn ganz freundlich an. Da giengen sie zusammen herab, und der König erwachte und die Königin, und der ganze Hofstaat, und sahen einander mit großen Augen an. Und die Pferde im Hof standen auf und rüttelten sich: die Jagdhunde sprangen und wedelten: die Tauben auf dem Dache zogen das Köpfchen unterm Flügel hervor, sahen umher und flogen ins Feld: die Fliegen an den Wänden krochen weiter: das Feuer in der Küche erhob sich, flackerte: und kochte das Essen: der Braten fieng wieder an zu brutzeln: und der Koch gab dem Jungen eine Ohrfeige daß er schrie: und die Magd rupfte das Huhn fertig. Und da wurde die Hochzeit des Königssohns mit dem Dornröschen in aller Pracht gefeiert, und sie lebten vergnügt bis an ihr Ende. [21]



[1] Kinder machen aus der jungen Frau die Mutter, lassen also die Frau aus Stadium Eins in Stadium Zwei treten. Kinder machen aus wechselnden Gelegenheiten eine feste Beziehung. Der König muss durch die Königin in seinem Amt / Funktion bestätigt werden; dies ist nur mit dem Gebären von Kindern solidisiert. Deswegen die enorme Freude des Königs.

[2] Frosch oder Kröte: Symbol des Uterus oder des wandernden Uterus. Verkörperung der Göttin des Todes und der Lebenserneuerung.

[3] Die weisen Frauen (Stadium Drei der Frau). Die männliche (patristische) Zählart geht für ein Ganzes von der 12 aus. Die matristische von 13, denn 13 ist die ursprüngliche Glückszahl. Hier erfolgt also ein Vergleich zwischen beiden Gesellschaftsformen. Indem der König kein 13. Besteck hat, verstößt er gegen die Grundlagen der ursprünglichen Gesellschaftsform. Er verärgert damit die Große Göttin.

[4] Eine Spindel liefert den Faden für ein späteres Gewebe. Dieses ist assoziiert mit dem Netz des Lebens. Ebenfalls ein Uterus-Zeichen mit der Göttin des Todes und der Lebenserneuerung.

[5] 100 ist das 10fache von 10. Zehn ist die Zahl der Göttlichkeit. Die Hundert potenziert dies; ebenso wie 1000 oder 10000… Die Zehn kommt zustande durch die Summe der ersten vier Zahlen, wobei die Vier die Zahl des Erdelementes ist (Windrose, 4 Himmelsrichtungen…). 1+2+3+4 = 10. Also Einheit + Mutter & Kind + schöpferisches (Trinität) + irdisches Prinzip = Göttlichkeit

[6] Diese Frauen / Feen haben sich dem patristischen System untergeordnet. Sie symbolisieren eine Zeit der Kapitulation und machen aus der Jung-Frau ein angepasstes Wesen, das nicht mehr in seiner eigenen Mittel leben kann.

[7] Der Turm ist symbolisch ein Phallus: In der Skulpturenkunst mit dem weiblichen Körper verschmolzen, bekräftigt der Phallus die Lebenskraft der Göttin Creatrix (wörtl.: Schöpferin).

[8] der Eintritt des Schlüsseldatums. Wichtig hier: mit Eintritt der Menarche (Regelbeginn) tritt jedes Mädchen in den Status der Jung-Frau. Als solche betritt sie die Turmkammer, wo sie auf die Weise Alte trifft. Diese stellt ihr die weiblichen Insignien (Gebärmutter) zur Verfügung. Damit erfüllt sie die Weissagung (aus männlicher Sicht ein Fluch, aus weiblicher ein Reifungsprozess mit der Chance, zur Frau zu werden).

[9] Damit hat die 13. Weise Frau (Fee, Feen werden sehr alt) das weibliche Prinzip wieder an erste Stelle gesetzt.

[10] Der Schlaf ist die Regenerationszeit. Im Schlaf können wir wieder zu uns selbst finden; ebenso wie zu unserer Berufung.

[11] Schloss ist doppeldeutig. A) stellt es ein in sich geschlossenes Gebäude dar (gleich einem Tempel oder anderer heiliger Bauten). B) ist es ein Verschluss, den niemand überwinden kann (oder sollte).

[12] Pferd = männlich dominierendes Symbol. Mit ihm wurden die matristischen Kulturen überrannt und erobert. Die Indogermanen konnten dies vom hohen Ross aus.

[13] Heiliger Vogel der Großen Göttin

[14] Feuer = Tatkraft

[15] Wind = Kraft der Gedanken.

[16] Der Hag / Die Hecke ist der Schutzbereich, der die Weise Alte umgibt.

[17] Der Wall der Großen Göttin ist unüberwindlich.

[18] Der Tod des Helden der Göttin.

[19] Der Jahreskönig / neue Held der Göttin trifft zum göttlichen Zeitpunkt ein (100 Jahre). Doch das Patriarchat schläft nur. Die Pferde schlafen nur, ebenso wie alles andere. Innerhalb der Hecke hat jedoch eine Regeneration stattgefunden.

[20] Die Erwähnung der Vögel verweist auf die Göttin als Lebens- und Gesundheitsspenderin.

[21] Diesem Märchen fehlt „die Moral von der Geschicht“. Was jedoch deutlich wird: der Prinz heiratet (vermutlich) die Prinzessin und Thronerbin, als deren Stellvertreter er dann aktiv werden kann. Wenn er wirklich weise ist, erinnert er sich der 13 als stellvertretender Zahl der Großen Göttin. Nur durch die Prinzessin ist er in seiner Position bestätigt. Matrilineare Thronfolge war über Jahrtausende die Basis von Clans und Stämmen. Die Mutter stand fest, der Vater wurde als sekundär betrachtet. Aus der Matrilinearität ergab sich weltweit auch die Matrilokalität (Standort der Mutter) als verbriefter Lebensbereich.

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Und die Moral von der Geschicht…

Jedes Märchen hat allerdings auch eine Botschaft. Dornröschen könnten wir als Botschafterin der alten Kultur verstehen, die sich auf die göttliche Ahnfrau bezieht. Solange sie die Entwicklung des kleinen Mädchen durchläuft, ist sie verfangen in der patriarchalen Dominanz, laut der sie schön, sittsam, freundlich und verständig sein musste, damit jedermann, der sie ansah, sie lieb haben musste. Es waren also erstmal nur die Eigenschaften gefragt, die gemäß Genesis von der Frau als unterworfener und dienender Eva gefordert sind: Schönheit statt Verstand, Jugend statt Erfahrung, Angepasstheit statt eigener Initiative und Tatkraft (es schläft sogar das Feuer ein).

Jedoch mit dem Übergang vom Mädchen zur Frau kann sie sich zu einer er- und gewachsenen Vertreterin der Großen Göttin entwickeln. Ihr Schlaf bietet ihr diese Chance und nach ihrem Aufwachen könnte sie wieder ihre schöpferischen Aufgaben übernehmen. Dies bleibt in der Märchen-Version der Gebr. Grimm offen, da das herrschende Patriarchat an einer solchen Lösung nicht interessiert sein kann.

Das Märchen schildert jedoch sehr eindrücklich die drei weiblichen Phasen der Jung-Frau, der Mutter und der Weisen Alten. Ebenso die 13 Monde, die für eine Frau dann wichtig sind, wenn sie als Mutter in ihr Leben eintreten will. Hierzu muss sie den Kontakt zu Männlichen aufnehmen, dessen Himmelsgestirn der Mond ist, während sie als strahlende Schöpferin der Sonne folgt und das Leben ent-wickelt.

In prähistorischer Zeit[1] wurde die Große Göttin als Himmelsmutter, Ur-Schöpferin und göttliche Ahnin der gesamten Gesellschaft verstanden. Patriarchale Eroberungszüge haben dann weitere Gottheiten in diese Gesellschaften getragen, die erst als untergeordnete Kriegsgötter, später jedoch als Gatte der Göttin (vergl. die Ähnlichkeit der beiden Wörter) Eingang in die neue Herrschaftsform fanden. Einige Namen der Großen Göttin wurden vermännlicht bzw. sie wurde zur Fruchtbarkeitsgöttin disqualifiziert.



[1] Prähistorie ist die Zeit vor der bisher gefundenen Geschichtsschreibung. Obwohl inzwischen viele Dokumente der matriarchalen Gesellschaften gefunden worden sind (Ur und auch Anatolien), werden diese Zeitalter immer noch der Prähistorie zugeordnet. Vielleicht, weil sich Historiker einfach nicht damit abfinden können, dass eine Bilderschrift ebenso eine Schrift ist wie die der Buchstaben. Die Hieroglyphen der Ägypter werden hingegen als Schrift anerkannt – ein Widerspruch in sich.

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